Die Schubladenritzer

Foto: Shirin K. A. Winiger

Irrenhaus Berlin – 4. Therapiestunde

Für die neuen Leser unter euch, die sich wundern, was der Psycho-Onkel hier fabriziert, empfehle ich, sich die Anfänge diese Artikelreihe zu Gemüte zu führen. Dort wird  genauer Sinn und Zweck des Ganzen erklärt. Alle, die sich wundern, warum auf einmal die Reihe abbrach, denen muss ich gestehen, dass mir der Geist zum Psychologisieren im Netz etwas abhanden kam, als ich soviel im echtem Leben zu psychologisieren hatte. Doch nun bin ich wieder soweit und ich habe euch ein Störungsbild mitgebracht, was nicht von schlechten Eltern ist. Warum also Schubladenritzer schlimmer sind als das wuchernde Zahnfleisch deines Pit Bulls und wie man aus der Schublade raus springt, bevor sie dich für immer in ihr hölzernes Klicheeherz einschließt, folgt nach dem Klick.

Das Prinzip der Schublade haben wir alle drauf. Daran ist erstmal auch nichts verkehrt. Wir beobachten, kategorisieren und verschieben unser Kategoriensystem, falls neue Informationen dazukommen, die widersprüchlich zum vorherigen sind. Das ist eines der vielen tollen Ökonomievorgänge, die unser Gehirn vor dem Informationsoverload und dem Meltdown bewahren.

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foto: drp from flickr

Was bei den Schubladenritzern vollkommen schief läuft, ist der Irrglaube, sie müssten demjenigen unbedingt mitteilen, in welche Schublade ihres gigantischem Apothekerschränkchens man gerade feststeckt und da auch wohl nie wieder rauskommt, egal was man an zusätzliche, vielleicht widersprüchlichen Informationen anzubieten hat. Es ist wie bei diesen Zombiefilmen, wo sexy Milla Jovovich sich durch gammelndes Fleisch kämpft. Ist man einmal geritzt worden dann ist Schluß mit Individualität. Man ist Gefangener eines fremden Urteils. Eines Ungebetenen noch dazu!

Habt ihr euch jemals gefragt, wer die ganzen Kategoriennamen erfunden hat? Wer die verrückt angezogenen als Mitte-Fashionistas, die Anzugträger als Charlottenburg-Spießer und die Jesuslatschen-Fraktion als Kreuzberg-Ökos als aller erstes bezeichnet hat. Das waren nicht etwa die gegenseitigen Gruppierungen, sondern niemand anderes als die Schubladenritzer selbst. Diese sind so neutral und langweilig, dass unser Gehirn nicht mal Lust hat sich eine eigene Kategorie für diese auszudenken. Dafür ritzen diese einem mit ihren spitzen Zünglein Etiketten auf die Stirn und schon schnappt das Schublädchen zu.

Aber ich bin es so satt zu hören, dass ich aus Südamerika komme, weil ich dunkel bin, dass ich verrückt bin, weil ich Psychologie studiere, dass ich oberflächlich bin, weil ich zu viele Klamotten besitze, dass ich tiefgründig bin, weil ich zum Yoga gehe, dass ich gut koche, weil ich aus Italien komme, dass ich ein Einzelkind bin, weil mich meine Familie unterstützt und dass ich Social Networks liebe, weil ich einen Blog schreibe. Mir ist vollkommen unverständlich, wie erwachsene Menschen nach jeder persönlicher Information, die man ihnen mitteilt, sofort erwidern, in welche Schublade man passt. Als wäre das Gesamtbild nicht mehr vorhanden und das Gedächtnis nicht in der Lage, mehr als diese eine Information zu verarbeiten.

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Foto: drp from flickr

Theoretisch wären die Schubladensritzer sehr wohl dazu in der Lage. Allerdings scheinen sie um den Effekt zu wissen, den ihr Verhalten beim Gesprächspartner auslöst. Wenn ich offensichtlich mache, dass ich dich schon nach ein paar Sätzen einordnen kann, dann vermittele ich dir auch, dass ich dich nicht besonders vielfältig und interessant finde. Dieser Versuch, sich durch die Schubladen-Einschätzung über einen zu stellen, funktioniert leider manchmal, ist aber eigentlich absurd. Denn Schubladendenken ist die einfachste Form, in der unser Gehirn nur denken kann und weder eine kognitive Meisterleistung, noch etwas, worauf man stolz sein sollte.

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