Strange Magic IV: Insomnia

Foto: Eylül Aslan

Eine schlaflose Nacht in Berlin-Kreuzberg war der Aufhänger für die Geschichte Insomnia von Jannis Klasing. Verloren in Gedanken hängt man zwischen den Laken und hofft auf die Erlösung durch den Schlaf. Die spannende Geschichte erwartet euch nach dem Klick.

Insomnia

3.47 Uhr. Die Vorhänge wehen leise im Wind, eine singende Säge erklingt von weitem, klirrende Gläser, leises Klopfen, Katzengejammer wie Babygeschrei, von irgendwoher draußen Musik, ein Trommelwirbel, Geigen, Kinderstimmen, Vogelgezwitscher, klapperndes Geschirr im ersten Stock, Wasser tropft in eine metallene Wanne, Gesprächsfetzen, die keinen Sinn ergeben, viel zu schnell gesprochen, dann wieder verlangsamt, wie durch Watte, der Lärm einer Feier, Mädchengekreische, der hastige Zug an einer Zigarette, Autogeräusche, Heuschreckengezirpe, Schlüsselklappern, Schuhabsätze, leises Klopfen am Wannenrand, Stimmengewirr in verschiedenen Sprachen, ein Tisch wackelt, ein Stift, der auf Papier ansetzt, ein Knall wie ein Pistolenschuss, vielleicht ein Auspuff, klöten, Ratschen, Pfeifen, Kugelschreiberklacken, ein Windstoß, wieder Musik, ein Mülleimerdeckel, der laute Schrei einer Frau von der Straße, ein Motorrad rast vorbei, ein Kühlschrank surrt vor sich hin, eine Plastiktüte raschelt, ein Mann und eine Frau streiten sich, ein Hund jault, ein Messer auf einem Schneidebrett, eine Windböe, Kinderstimmen, Autohupen, Blätterrauschen, wieder eine singende Säge, die Stirn pocht, rhythmisches Hämmern auf Schrott, Geschirr klappert, Kinderlachen, ein Telefon klingelt laut, mehrmals, die Geräusche verschwinden allmählich, lösen sich auf, der Nebel verzieht sich.

Ich lehne mich zurück und ziehe die Antennen wieder ein, versenke mich ganz in mich selbst, horche weit nach innen, versuche die Stille zu hören, versuche sie langzuziehen, auszudehnen, zu einem ewigen Augenblick, ohne den Lärm in mir.

7:37 Uhr. Fiebrig irre dieser hyperaktive Effekt der schlaflosen Nacht, hunderttausend Ameisen, der Verstand pupillengeweitet, der Körper gespannt, einsatzbereit für die Schlacht des angebrochenen Tages. Das Fenster steht sperrangelweit offen, die Luft rings um mich herum vibriert wie auf Autobahnen bei starker Hitze. Während sich das goldene morgendliche Sonnenlicht langsam als ein Schleier auf die Stadt legt – die Scheiben schon ganz blind –, ziehen die Wolken vorbei, auf schnell gestellt, wie in manchen schönen Filmen.

12:16 Uhr. In der Wohnung über mir lebt ein Kriegsveteran, der von früh bis spät mitfiebernd seine alten Frontberichte vom Band abhört. Ich hatte Angst vor ihm, als ich einzog. Ich hatte Angst, dass er Dinge in meine Gegenwart hineinschleppt, die ich nicht ertragen würde. Ein Stadionsprecher bei einem Fußballspiel ohne Menschen. Schon seit einiger Zeit gehört er einfach dazu, ich habe mich an ihn gewöhnt. Er gleicht den Tapeten, die langsam abblättern, er ist Teil des Mobiliars geworden.

Heute aber ist alles anders. Kein Fliegeralarm, kein Bombenhagel, kein Geräusch, das mir wie sonst anzeigt, dass Krieg ist, nichts. Ich stapfe die Treppenhaustreppe hinauf, bis einen Stock über mir, und drücke auf die kleine unscheinbare Metallklingel ohne Namensschild. Ein kurzes scharfes Läuten in der Wohnung dahinter, sonst nichts. Kein schlurfender Gang, kein Schnaufen. Ich klingele erneut, wieder nichts. Dabei horche ich, ob irgendein anderer Nachbar mir mein Unbehagen nehmen kann. Doch es bleibt still. Alles was ich höre, ist mein eigener Atem.

18:37 Uhr. Wenn der Grund unter mir nicht so ein Widerstand wäre, ich wäre längst tief in die Erde hineingefallen, eine Spalte hätte sich für mich geöffnet und ich wäre hinabgestürzt …

18:48 Uhr. Mein Kopfinneres ist eine verdorrte Landschaft, die aufgeschnitten ist und aufgehängt an einem roten Faden …

19:13 Uhr. Leise höre ich das Aufundzuklappen der Augenlider überall, ein Wespennest, das Summen wird lauter, wird zu einem ohrenbetäubenden Surren, lauter Kampfhubschrauber. Meine Angst steigert sich ins Unermessliche, plötzlich bricht der Schutzwall, meine Haut platzt auf, die Welt schwappt in mich hinein als eine riesige Flutwelle, ungefiltert, reißt einen tiefen Graben quer durch meinen Körper, es schreit und brüllt in mir, die Weltgeschichte, die unter meine Haut geschlüpft ist und durch mich hindurchrauscht, reißt mich in Stücke.

Mein Verstand versucht das ganze zusammenzuhalten, ein Blinder, dem der Krückstock aus der Hand entglitten ist, aber der Druck wird zu groß, spannt mein Hirn in einen Schraubstock, ich breche aus ei na nde r …

23:30 Uhr. Ein anderer Nachbar – ich weiß seinen Namen nicht – kommt, wie schon so oft, zu spät an diesem Abend und klopft seinen Mantel ab, der regenschwer den Flur besudelt. Seine Schuhe hinterlassen dunkle Flecken auf dem schachbrettartig gemusterten Boden. Die Deckenlampe leuchtet noch. Sie sitzt in der Küche, eine Zigarette rauchend. Das Essen auf dem Küchentisch dampft nicht mehr. Er grüßt, sie schweigt. Er setzt sich an den Tisch. Nach einigen Sekunden des lauernden Abwartens springt sie auf, knallt die Tür hinter sich zu und verschwindet im Schlafzimmer. Er wundert sich nicht mehr, versteht, dass alles Alte nun zuende geht. Er zieht seinen Mantel wieder an, hält das Feuerzeug an eine Zigarette, murmelt, dass er eben frische Luft schnappen gehen wolle, und verlässt die Wohnung. Er geht fort, in den schweren Abendregen, und verschwindet im Nichts.

Text:  Jannis Klasing

Jannis Klasing ist 1984 in Hannover geboren. Im Jahre 2001 Aufführung des erstes Theaterstücks “Nicht nichts” am Schauspielhaus Hamburg. Daraufhin Abdruck in der S. Fischer-Theateranthologie „Theater Theater 13“ und Aufnahme in das S. Fischer-Verlagsprogramm. In den folgenden Jahren Teilnahme an zahlreichen Schreibwerkstätten (u.a. am Burgtheater Wien und beim Interplay-Festival in Australien), Aufführung weiterer Theaterstücke (in Berlin, Hamburg, Karlsruhe und Australien) und Prosa-Veröffentlichungen, eigene Produktionen als Regisseur (HAU Berlin, Theaterdiscounter) und die Mitarbeit als Dramaturg und Autor an zahlreichen Produktionen (u.a. am HAU in Berlin, auf Kampnagel in Hamburg, Fleetstreet-Theater). Seit 2012 auch Arbeit als Lektor und Kulturjournalist und seit 2013 Arbeit in der Leitung und Organisation von Theaterfestivals (“Autorenlounge” und “Finale” beim Kaltstart-Festival in Hamburg). Aktuell Dramaturgiehospitanz bei der Schauspielhaus-Produktion “Schwarze Augen, Maria” der Gruppe SIGNA in Hamburg, mit der Gruppe Unkoordinierte Bewegung Vorbereitung eines neuen Theaterprojekts für 2014 als Dramaturg und Autor und Mitarbeit als Autor bei einem Regie-Diplom der Theaterakademie Hamburg.

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