Foto: Harald Hauswald
Berlin ist eine seltsame Insel voll mit den absonderlichsten Inselbewohnern. Für unsere Strange Magic Reihe hat sich der Autor David Bramhoff mit der Berlin Insel näher beschäftigt. David lebt seit knapp zehn Jahren in Berlin und schreibt seit etwa fünf Jahren Geschichten. Manche verträumt, manche düster, manche lustig, manche brutal. Vorher hat er an der Universität der Künste studiert und angeblich auch etwas gelernt. Mit dem, was er gelernt hat, arbeitet er neben seinem Schreiben als selbstständiger Kommunikations-Konzepter. Nebenher reist David gerne nach Südostasien, trinkt gerne etwas zu starken Espresso und hört gerne etwas zu laute Musik. Seine Geschichte findet ihr nach dem Sprung.
Die Insel
Du sitzt morgens in der U-Bahn und hast die Beine übereinander geschlagen. Du hast Kopfhörer auf und hörst irgendetwas Langsames. Deine Augen sind auf nichts Bestimmtes gerichtet, eigentlich schauen sie ins Leere. Ein paar Gesichter um dich herum, die irgendwie nicht da sind. Zwischendurch die Ansagen der U-Bahn. Es riecht nach vielen Menschen, nach Parfum und ein bisschen nach Zigaretten. Du schließt die Augen und wippst mit dem freien Fuß in der Luft. Drei Stationen vor deinem Ziel ist das Lied vorbei und du öffnest die Augen wieder.
Einer der Typen auf der gegenüber liegenden Bank steht auf, schaut erst dich und dann deine beiden Sitznachbarn an. An seinem Gesichtsausdruck siehst du, dass er etwas zu sagen hat. Als er zu sprechen beginnt, nimmst du mit leichter Verzögerung die Kopfhörer ab. Er sagt ein Gedicht auf, es ist in Englisch und es geht offensichtlich um eine Insel, auf der er gestrandet ist. Und um Farben. Er trägt eine grüne Jeans und ein weißes T-Shirt, auf das in Bauhaus-Lettern “Emil” gedruckt ist. Er hat blonde Locken und einen etwas dunkleren Bart. Jetzt schaut er nur noch dich an. Seine Augen sind sehr blau.
“Black and pale is the endless sea Deep is the ditch between you and me.” Er pausiert und lächelt. “Would you like to hug a tree?” Er schaut aus dem Fenster. “With me? I hope you’re free.” Noch eine Pause. “Call me Emil. And you are: Sophie?”
Die Leute in der U-Bahn gucken verwundert oder genervt oder gleichgültig. Du heißt Anna, aber dein zweiter Name ist wirklich Sophie. Jetzt ist er still und schaut dich fragend an. Du schaust ihn fragend an. Er dreht sich um und will gehen, während du eine Hand an die Kopfhörer legst, ohne zu wissen warum. “Warte kurz. Wait.” Er schaut sich zu dir um. Deine Station ist gekommen. “I come with you. I mean, I also have to get out here.” Er lächelt wie eben. Du steigst neben Emil aus der U-Bahn und gehst mit ihm einmal quer durch die Station, während der Zug sich in Bewegung setzt und wie jeden Morgen die 274 anderen Gäste, die in ihm sitzen, in den Norden der Stadt bringt. Emil sagt: “So this is where we meet?” Du lächelst. “Apparently.” Er lächelt auch und ihr schweigt ein bisschen, während ihr an einem Automaten mit Twix, Erdnüssen und Cola vorbeilauft und auf die Rolltreppe zusteuert, die euch zum Tageslicht bringen soll. Auf der Rolltreppe denkst du darüber nach, wie das wohl aussieht: du neben Emil.
Oben angekommen, bietet Emil dir einen Kaugummi an. “It was nice meeting you”, sagt er. “Yes.” Ein Auto hupt und ein Fahrradfahrer ruft ihm etwas Unfreundliches zu. Um euch herum Dutzende Fußgänger, die alle in Bewegung sind. Emil reicht dir die Hand. Sie ist warm und rau. Dann geht er weg. Du bleibst kurz stehen, nimmst dein iPhone aus der Tasche, obwohl es gar nichts damit zu tun gibt. Du schaust ihm nach und fragst dich, was mit dem Baum ist, den er umarmen wollte. Er hatte ein hübsches Gesicht unter seinem Bart. Nach ein paar Metern dreht er sich nochmal um, seine Augen suchen nach dir, finden dich und er ruft: “So tomorrow at the same time at this tree?” Er steht neben einer kleinen Buche und hält sich an ihrem Stamm fest. Morgen ist Samstag. Du rufst: „Ja.“ Er winkt und verschwindet zwischen den Passanten, die wirken, als wären sie programmiert. Du reihst dich in ihr Programm ein und gehts zur Arbeit. Emails, Facebook, Meeting, Kaffee, Witzeleien, Brainstorming, Nichtstun, Meeting, Schokoriegel, Nachhausegehen. Es wird schon wieder früher dunkel und manche Autos haben Scheinwerfer an, als du den Baum anschaust, an dem Emil sich heute Morgen festgehalten hat.
Du liegst in deinem Bett und siehst aus dem Fenster. Die Nacht ist grün-grau oder gelbanthrazit. Jedenfalls nicht schwarz. Sie ist nie schwarz hier. Du schläfst ein und wachst auf, bevor der Wecker klingelt. Unter deiner Decke ist es warm, aber die Luft in deinem Zimmer ist über Nacht stark abgekühlt. Du bleibst noch ein bisschen liegen und schaust auf das erste Licht, das durch deine Vorhänge fällt. Dann stehst du auf, kochst dir einen Tee und denkst: Wenn ich heute zu spät komme, kann es sein, dass ich Emil nie wieder sehe. Aber du hast noch mehr als zwei Stunden Zeit und wirst nicht zu spät kommen. Du kannst in Ruhe zwei Käsebrote essen, obwohl du keinen Appetit hast. Kannst dir in Ruhe die Beine rasieren, obwohl du blickdichte Strumpfhosen tragen wirst. Du nimmst eine Bahn früher als gestern, hast keine Sitznachbarn und gehst alleine an dem Twix-Automaten vorbei. Die Rolltreppe fährt besonders langsam heute und oben angekommen, siehst du kaum Menschen und hörst keine hupenden Autos. Nur deinen Herzschlag. Du gehst zu Emils Baum und lehnst dich an.
Text: David Bramhoff
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