Wie es war, vor 20 Jahren nach Berlin zu ziehen

photoPatrick1977Bln / CC-BY-SA

Wir schreiben das Jahr 2000. Ich war bereits in meinen späten Teenagerjahren und frisch von der Schule, während der Rest der iHeartBerlin-Crew, wie ihr sie heute kennt, noch Fruchtzwerge gelöffelt hat. Es ist das Jahr, in dem ich in Berlin angekommen bin, und das war – da übertreibe ich nicht im geringstens – eine komplett andere Angelegenheit als heute. Stellt euch vor, ihr kommen hierher, ohne jemanden zu kennen, weil es keine sozialen Medien gab, um mit den Leuten in Kontakt zu treten, bevor man überhaupt ankommt. Und stellt euch vor, mit einer faltbaren Stadtkarte durch die Gegend zu laufen, weil es keine Google Maps gab. Stellt euch vor, dass der Eberswalder Straße U-Bahnhof im heutigen gediegenen Prenzlauer Berg das damalige Kottbusser Tor war (keine Ahnung, wie das echte Kottbusser Tor gewesen ist, denn man ist dort einfach NICHT hingegangen). 

Es war die Zeit vor dem großen Berlin-Hype, die Zeit vor Kellnern, die nur Englisch sprechen, vor dem Berghain-Kult, vor all diesen großen Shopping Malls, vor dem Berliner Hauptbahnhof, vor dem Gemecker über hohe Mieten oder Gentrifizierung, vor den zwanglosen Gesprächen über Drogenkonsum, vor den Mobs von Touristen, vor den Gesetzen gegen das Hinterlassen von Hundekacke auf den Straßen, vor dem Bankrott von Air Berlin, bevor Tempelhof in einen riesigen Park verwandelt wurde, bevor es richtige Jobs in Berlin gab. Damals war es eine ganz andere Welt. Es war ein Berlin an der Grenze zwischen den rohen, unverdorbenen 90er Jahre nach dem Mauerfall, das so viele von uns älteren Neu-Berlinern idealisieren, und dem Berlin von heute.

 

Air Berlin flight arriving in Berlin in 2000, by Aero Icarus / CC-BY-SA

 

Alexanderplatz from above, 2003

Altbau on Rykestraße in 2006, by glasseyes view / CC-BY-SA

 

Am Anfang meines Berliner Lebens habe ich mich nur auf all die Veränderungen und Verbesserungen der Stadt gefreut. Das Alte, das Nostalgische, das Verlassene zog mich damals nicht an – davon hatte ich genug, denn ich kam aus einer Stadt im ehemaligen Osten. Ich wollte die futuristische Seite Berlins sehen – eine, die mir jetzt ganz ehrlich Angst macht. 

Einer meiner Lieblingsorte dieser Art war das Sony Center. Könnt ihr euch das vorstellen? Die Berliner hassen diese Gegend von ganzem Herzen. Aber ich mochte die damals moderne Architektur, das Kino (das damals noch synchronisierte Filme zeigte), den Sony-Store, die Eisdiele in den Arkaden, die Modegeschäfte dort. Es ist irgendwie traurig zu sehen, dass diese beiden Orte Ende 2019 ihre Tore geschlossen haben. Aber dieser Ort gab mir viel Hoffnung und Begeisterung für die Stadt. 

Berlin zu erkunden, sich über Orte zu informieren, Leute zu treffen, Kontakte zu knüpfen – das hat damals alles ganz anders funktioniert. (Ich fühle mich fast wie deine Großmutter, die gerade über Vorkriegsgeschichten spricht…) Ich frage mich, wie mein Leben gewesen wäre, wenn es damals schon Apps, Social Media, etc. gegeben hätte. Einerseits wäre es sicherlich einfacher gewesen, mit den richtigen Leuten in Kontakt zu kommen (ich bin sehr zuversichtlich, dass ich mehr Sex gehabt hätte!) und die richtigen Orte zu finden (es hätte mir einige Enttäuschungen erspart), andererseits hätte es mir ein wenig den aufregenden Teil genommen, eigene Erfahrungen zu machen, anstatt die Erfahrungen anderer Leute zu wiederholen. 

 

Sony Center by Night in 2004, by Andreas Tille / CC-BY-SA

Friedrichsstraße, In Berlin in 2006, by Henry Mühlpfordt / CC-BY-SA

Galerie Kaufhof at Alexanderplatz early 2000s, by Silke Sohler / CC-BY-SA

Statt Blogs, Facebook-Events und Instagram-Geschichten von coolen Leuten war ich damals auf gedruckte Stadtführer wie 030, Tipp, Zitty und Prince angewiesen. Ich erinnere mich, dass ich all diese unzähligen Auflistungen von Partys und Clubs gesehen habe, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte und nicht wusste, in welche ich gehen sollte. Später gab es auch ein geschlossenes Online-Forum für Techno-Fans namens Restrealität (es existiert sogar noch), das sich nach der Schließung des Berghain-Vorgängers Ostgut, welche eine ganze Szene von Partymenschen in der Schwebe ließ, gebildet hatte. Hier tauschte man sich über geheime Open-Air-Raves und neue Underground-Techno-Partys aus – vor allem die legendäre Geschichte der Bar25 wurde hier heftig diskutiert. Ich persönlich war nie Mitglied, aber einige meiner Partyfreunde bekamen hier ihre Empfehlungen für die besten Partys, was mich zu verrückten illegalen Raves in Parks und verlassenen Orten führte. Es war ziemlich aufregend und so unberechenbar.

Wie du dir vorstellen kannst, war das Nachtleben vor 20 Jahren ganz anders. Heute fühlt es sich mit Modetrends und ausgefallenen DJs ziemlich beschönigt an. Damals war es noch viel entspannter, super improvisiert und rau. Lange Schlangen und Abgewiesen werden an der Tür – das war nicht annähernd so üblich wie heute. Viele der heute ‘touristischen’ Clubs waren damals noch nagelneu und super angesagt. Natürlich gibt es eine ganze Generation von Clubs von damals gar nicht mehr, wie z.B. das gesamte Ensemble, das sich in den verlassenen Industriebauten zwischen Warschauer Straße und Ostbahnhof befand, darunter der bereits erwähnte Berghainer Vorgänger Ostgut mit der ursprünglichen Panorama Bar, sowie der riesige Techno-Club Casino, der schon lange bevor die Bar25 es zu ihrem Markenzeichen machte, Sonntags tagsüber Open-Air-Sessions veranstaltete. Das KitKat war damals noch im Metropol und ein bisschen mehr Hardcore und ein bisschen weniger Hipster als jetzt.

 

Night Out in Berlin in 2000, by nhayashida / CC-BY

Volkspalast – Der Berg, 2005, by Mario Storch / CC-BY

U-Bhf Platz der Luftbrücke 2004, by Patrick1977Bln / CC-BY-SA

 

Natürlich war das Nachtleben nicht das einzige, woran ich mich erinnere, was sehr anders war. Lasst uns über ein heutzutage heiß diskutiertes Thema sprechen, was damals noch völlig irrelevant war: Die Wohnungen! Ich kam mit dem Plan an, mir ein Zimmer in einer WG zu suchen. Nachdem ich einige besucht hatte, in denen ich einer von vielleicht fünf anderen Bewerbern war, konnte ich mir nicht wirklich vorstellen, mit diesen Fremden zusammenzuziehen. Was für ein kleiner Snob ich damals war (dem Prinzip WG habe ich mich inzwischen geöffnet…). In den Inseraten einer Zeitung fand ich eine Einraumwohnung, tatsächlich gab es 4 verfügbare Einheiten im selben Haus und ich hatte den Luxus, die am schönsten aussehende auszuwählen. Es war natürlich spottbillig und super gut gelegen in Friedrichshain in der Nähe der U-Bahn. Ich muss zugeben, dass ich dort einige verrückte Nachbarn hatte, die mich mit ihrem Lärm halb wahnsinnig machten. Aber zum Glück trat dieses Problem in keiner meiner folgenden Wohnungen mehr auf. 

Das Daten war damals so ziemlich die gleiche Katastrophe wie heute, nur aus anderen Gründen. Diejenigen, die man wollte, konnte man nie wirklich in die Finger bekommen und die, die übrig blieben, waren meist so seltsam wie Charaktere aus Tim-Burton-Filmen. Und man musste so viel mehr Mut aufbringen, um auf die Leute im echten Leben zuzugehen, weil es keine Apps gab, in denen man sich später mit dem Sicherheitsnetz der digitalen Gleichgültigkeit seinem Schwarm nähern konnte. Wenn man jemanden sah, der heiß war, musste man direkt drauf los, sonst hätte man nie Glück gehabt. Um ganz ehrlich zu sein, meine Versuche des “Anbaggern” endeten leider häufiger mit nervösem Durchfall auf einer schmutzigen Clubtoilette als mit einem aufregenden One-Night-Stand.

Wenn man mich fragen würden, wie ich mein frühes Berliner Leben zusammenfassen würde, ich würde wahrscheinlich antworten: seltsam. Aber nicht unbedingt auf eine schlechte Art und Weise. Manchmal vermisse ich das Gefühl, dieses klitzekleine Stück Leben in dieser großen, dunklen Stadt zu sein und eine Mischung aus Aufregung, Neugier und Angst zu empfinden. Ich habe diese ausgeprägte emotionale Erinnerung an eine Nacht in einer Wohnung, die nicht meine war, in einer Nachbarschaft, die ich nicht kannte, es war dunkel und regnete und ich schaute aus dem Fenster in die Straßen und wunderte mich, wo zum Teufel ich war – es hätte auch genauso gut eine Stadt im tiefen Russland sein können – und ich fragte mich, ob ich mich jemals so fühlen würde, als wäre ich vollständig hier angekommen, bevor mich dieser große graue Fleck einer Stadt ganz verschlucken würde.

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