Die Dunkelheit hat Ihren schweren Mantel behutsam über der Stadt ausgebreitet. Nun ist Berlin wieder ganz in den Fängen der Nachtschwärmer und Eulen.
Die einen feiern, die anderen arbeiten. Nur die Lerchen sind auf den Straßen nicht mehr zu finden. Längst ist der Schlaf der Gerechten über sie hergefallen. Bekommen nichts mit von dem zweiten Gesicht, welches nur nachts die funkelnden Augen öffnet.
Die Stadt, die niemals schläft, ist doch eher Berlin als New York. Ein jeder, der einmal im Big Apple gewesen ist wird festgestellt haben, dass dieser Slogan nur bedingt auf die Stadt der Häuserschluchten zutrifft. Doch wer braucht New York, wenn es Berlin gibt.
Berlin, Berlin du wunderbar ungezähmte Metropole, ausgerechnet mitten im gesitteten Deutschland.
Die Lichter der Häuser verraten so viel über ihre Bewohner. Fenster hell erleuchtet obwohl es der Uhrzeit so gar nicht entsprechen mag, erzählen von brütenden Schriftstellern, frisch gebackenen Eltern und denen, die in der Nacht zu glitzern beginnen. Antizyklische Menschen so scheint es, sind mir oft die Liebsten.
Verlasse ich das Haus, begrüßen mich die jauchzenden Schreie der Feiernden. Die Feinschmecker der Festivitäten ziehen allnächtlich um die Häuser und wollen jeden an ihrer Gefühlswelt teilhaben lassen.
Unterdrückte Gefühle sind etwas für den Tag. In der Nacht wird die Käfigtür weit geöffnet und die sonst so kontrollierten Emotionen haben freien Lauf. Dürfen toben, wüten und jubilieren.
Freude, Wut, Begeisterung. Raus in die Welt und hinfort aus dem Körper.
Und mitten zwischen diesen Gemütsbekundungen und den braven, schlafenden Bürgern ruhen sie:
Die Spätis.
An jeder Ecke, in jedem Kiez. Manche glamourös, andere heruntergekommen. Sie schmücken sich mit Produkten aus fernen Ländern oder dem heutigen Ehrentitel, der die Welt wieder in Ordnung bringen soll: “Bio” Die Spätis gehören inzwischen zu Berlin wie die Maskerade nach Venedig.
In dem einem schwingt der Kronleuchter, im anderen der Besitzer. Die Bässe der Musik des Nachtclubs nebenan bringen beide gleichermaßen aus der Position des Gleichgewichts.
Oh, in welch wunderbarem Paradies bin ich hier gelandet. Es gibt viele Gründe sich in Berlin wie Alice im Wunderland zu fühlen.
Die vorerst so unscheinbar wirkenden Spätis sind einer davon. Kleine und große Verkaufsstätten, zugestellt mit allerlei Nützlichem und großartigem Unnützem. Feiertage oder Sperrstunde sind Ausdrücke, mit denen ein Späti nichts anfangen kann.
Ob Katzenfutter, Champagner, Schokolade oder Batterien: Was auch immer mitten in der Nacht benötigt wird: Die Spätis waren schon für viele Situationen Retter in der Not. Die meisten Bewohner Berlins haben ihren persönlichen Lieblingsspätimann, einen ganz bestimmten Späti, der für die Mitternachtssnacks und einen der für Nachschub an spontanen Partyabenden sorgt.
Späti Crawls sind sicher spektakulärer als jeder noch so gute Pub Crawl. Da wird die Straße unser Club, der Park ist jedermanns Garten und der Spätimann Barkeeper für alle.
Ein anderes Mal kann er zum Philosophen, zum Streitschlichter, Berater oder Wegweiser mutieren. Mit den erlebten Geschichten könnten die Herrschaften dieser kleinen Wunderkisten wohl ganze Bücher füllen.
Im Scheinwerfer der Spätidiscokugel tanzen die lachenden Gesichter der internationalen Gäste. Die Welt zu Besuch in Berlin und die Spätis heißen jeden gerne Willkommen. Treten Sie näher und treten Sie ein! Die umgedrehten Bierkisten laden zum Bleiben. Nachschub an Köstlichkeiten für die benebelten Sinne machen den teuren Barbesuch überflüssig. Da juchzt das Herz des Studenten, der Rucksackreisenden und des unentdeckten Künstlers gleichermaßen. Das Leben zu zelebrieren muss nicht teuer sein.
Wäre vermutlich auch ein Hemingway heutzutage eher in den Spätis aufzufinden. Billiger Kaffee, ein Ort zum Rauchen und das, ohne nach einer Stunde herausgeworfen zu werden. Die verlorene Generation hätte dies genau wie wir zu schätzen gewusst.
Fremde werden Freunde und Freunde kommen sich im Rausch plötzlich vertraut fremd vor. Es macht Spaß, das Bekannte noch einmal neu zu entdecken.
Überkommt die Hauptstadt alle zwei Jahre das große Fußballfieber, ersetzt der Späti das Lazarett und umkümmert fürsorglich die Fiebernden. Plätze, um den Rausch gemeinsam durchzustehen, bieten bereitstehende Garnituren vor großen Flachbildschirmen.
Dann sitzen Punkrocker neben Prenzlauerberg Muttis und bejubeln dasselbe Team.
Der Geist des Gleichsinns fällt über sie her, ob sie wollen oder nicht. Denn könnte der eine ohne den anderen nicht der sein, der er ist. Berlin ist Berlin, weil sie beide Teil des Puzzles sind.
Und der Tag bekommt Falten, während der Abend die Wiedergeburt der hoch geschätzten blauen Stunde feiert.
Bald werden die Tage wieder kalt und nass, dann locken die kleinen Lädchen ganz sicher mit Glühwein. Gerne auch mit Schuss.
Oft floh ich dankbar vor der klirrenden Kälte in die Wärme, der meist von Zigarettenqualm vernebelten Orte, die niemals zu ruhen scheinen. Was in der faltenfreien, perfektionierten, westlichen Welt immer seltener wird, gehört hier noch zum Alltag. Berlin ist schon vor einiger Zeit Deutschlands schwarzes Schaf und der schillernde Paradiesvogel zugleich geworden.
Früher regierte Tante Emma die Straße, heute ist es der Spätimann.
Ob Ihnen klar ist, wie sehr sie das Gesicht der Stadt prägen? Dass sie fester Bestandteil dieses bunten Chaoten Haufens sind? Zu oft wird Kult und Kultur erst dann anerkannt, wenn sie wieder verschwunden ist. Also lasst uns diesen festen Bestandteil schon heute feiern. Die Komponente, die ganz unaufgeregt so viel beiträgt zu dem Freiheitsgefühl der Stadt.
Egal ob in Berghain Dresscode oder Ballkleid. Die zweite Haut des Menschen mag manch Klischeeverliebte unserer Spezies beeindrucken. Dem Spätimann ist dies sicherlich reichlich egal. Recht hat er. Hauptsache ist doch wir bleiben ihnen so treu wie sie uns.
Denn die Spätis von Berlin sind eines der Berlinhaftesten Dinge die es gibt.
Illustrationen: Sophia Halamoda