Fotos: Frank R. Schröder.
Das neue Tanztheaterstück The Hunger von Costanza Macras und ihrer Kompanie Dorky Park hat Berlin im Sturm erobert – und das zu Recht. Dieses fulminante Spektakel begeistert nicht nur mit einer einzigartigen Besetzung, sondern verbindet auf der Bühne auch zwei Themen, die aktueller denn je sind: Kolonialismus und die Kommodifizierung des Selbst in der digitalen Welt. Es folgt ein animierter Einblick.
Lange Zeit schienen die Internetwelt, mit all ihren visuellen und erzählerischen Phänomenen, und die Welt des zeitgenössischen Theaters in zwei Parallel-Universen zu existieren. Mit der inzwischen allgegenwärtigen Online-Welt in unserem Alltag beginnt jedoch auch eine der letzten Bastionen der deutschen Kultur – das deutsche Regie-Theater – zu überdenken, wie es sich zu digitalen Trends positionieren möchte. Viele Ansätze in dieser Auseinandersetzung sind intellektuell und technologisch besonders, doch ihnen fehlt oft der Humor oder sie neigen zu einer stark technologiepessimistischen Erzählweise.
Erfrischend anders ist der Ansatz von Costanza Macras. Bereits in ihrem letzten Werk Drama an der Volksbühne gingen TikTok-Choreografien Hand in Hand mit zeitgenössischen Tanzbewegungen. In The Hunger, ebenfalls an der Volksbühne, wagt sie nun den vollständigen Sprung und durchbricht die Wand zur digitalen Sphäre. Das Stück führt das Publikum durch eine Serie von scheinbar zufälligen Assoziationen, was The Hunger weniger selbsterklärend macht als viele ihrer vorherigen Werke. Manchmal erhascht man eine Ahnung, worum es in dem Stück geht, doch die meiste Zeit ist man angenehm verwirrt. Was hat ein Heiratsantrag mit einer Geschichte über ein Schiff, das in der „Neuen Welt“ ankommt, zu tun? Was verbinden Fitness-TikToks mit einer Sex-Orgie?
Kannibalismus vs. Kolonialismus in der digitalen Sphäre
Die Handlung von The Hunger basiert auf einem argentinischen Buch aus den 1980er Jahren mit dem Titel Der fremde Zeuge. Eine Schiffscrew spanischer Konquistadoren landet zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Südamerika und wird von Indigenen gefangen genommen. Der Stamm überwältigt die Besatzung und beginnt, sie in orgiastischen Festlichkeiten aufzuessen. Nur ein Spanier überlebt und dokumentiert die Bräuche sowie die kannibalistischen und erotischen Vorgänge der Entführer:innen.
Diese Handlung taucht im Stück nur gelegentlich auf – wie ein entfernter Verwandter, der zu Weihnachten vorbeischaut. Doch je tiefer man in die Welt von The Hunger eintaucht, desto deutlicher wird, dass Macras das Erlebnis des endlosen Scrollens auf dem Handy auf die Theaterbühne übertragen hat. Dabei lädt sie Stück für Stück das Publikum dazu ein, die mentalen Puzzleteile zusammenzusetzen. Die kannibalistische Natur des Kapitalismus, in der wir heute leben, ist das Ergebnis von Jahrhunderten ungebremsten Kolonialismus. Und während es keine neuen analogen Territorien mehr zu erobern gibt, erobern Tech-Unternehmen nun die riesigen Landschaften unserer Zeit, Aufmerksamkeit und Emotionen. Wir Menschen und unsere Daten sind zu Fleisch geworden, von dem die Tech-Mogule sich nähren – und ehe wir uns versehen, werden wir ausgespuckt wie ein abgenagter Knochen.
Doch trotz dieser düsteren Gedanken führen Macras und ihre Kompanie Dorky Park das Publikum immer mit humorvollen und kraftvollen Choreografien durch das Stück. Während das gesamte Ensemble beeindruckt, stechen besonders die beiden Hauptgeschichtenerzähler:innen Steph Quinci und Anne Ratte-Polle mit ihren ikonischen Monologen hervor. Der Gedanke, der am Ende hängenbleibt: Wir Menschen haben es geschafft, auch aus dem Internet, was einst die Gesellschaft revolutionieren sollte, ein Werkzeug, das Sie auffrisst oder betrügt.
Weitere Informationen zu The Hunger gibt es hier.