Ein Nachruf von Herzen über die großartige Aérea Negrot

Foto: Vanessa Marino

Aérea Negrot ist eine Berliner Ikone. Die traurige Nachricht von ihrem Tod, die uns am Donnerstag erreichte, wird daran nichts ändern. Sie war weit über Berlins queeres Nachtleben, die Theaterszene und Kunstwelt hinaus beliebt. Sie war eine brillante Künstlerin, Performerin, DJ. Sie war Mother, sie war Diva, sie war Queen, sie war alles und mehr.

Es ist das erste Mal für mich, dass ich über eine Person aus unseren Kreisen schreibe, die gestorben ist. Ich bin ehrlich gesagt sehr betroffen, aber ich habe das Gefühl, dass ich so viel zu sagen habe.

Meine erste Begegnung mit Aérea geht auf das Jahr 2005 zurück. Wir liefen uns auf einer Party an einem Ort über den Weg, der später zu Berlins berühmtesten Club werden sollte. Sie fiel mir in ihrer Gruppe auf, einmal, weil sie meiner besten Schulfreundin verblüffend ähnlich sah, aber auch, weil sie diese besondere Aura um sich hatte, die mich anzog.

 

Fotos: Vanessa Marino

 

Damals war sie bereits als multidisziplinäre Künstlerin mit einem Background im klassischen Balletttanz tätig, aber davon ich wusste noch nichts. Erst ein paar Jahre später tauchte sie im Programm eines Veranstaltungsortes auf, in dem ich auch Events machte. Die kenn ich doch, dachte ich. Der Booker pries sie als the Next Big Thing an. Kurze Zeit später sah ich sie im Sternenfoyer der Volksbühne auftreten. Es war eine Mischung aus Performance-Act und Konzert, sie parodierte auf eklektische Art und Weise die Abstimmungsansagen des Eurovision Song Contest und brach gelegentlich in Operngesang aus. 

 

Ein Jahr später, 2010, erschien sie als Sängerin auf dem zweiten Album von Hercules & Love Affair auf und trat damit in die Fußstapfen der grandiosen Nomi. Ich war begeistert, dass eine junge Berliner Künstlerin Teil einer international gefeierten Band wurde. Es war fabelhaft, ich habe sie in dieser Zeit zweimal hier in Berlin auf der Bühne gesehen und sie war absolut umwerfend.

 

Kurz darauf, 2011, veröffentlichte sie ihr viel gelobtes Debütalbum Arabxilla, das mit einer perfekten Mischung aus Minimal Techno, experimentellem Pop und einer Prise Operndrama aufwartet. Ich persönlich schätze vor allem den Humor und ihre unverkrampfte Sicht auf das Leben einer Ausländerin aus Venezuela in Deutschland.

 

 

 

In den folgenden Jahren etablierte sie sich auch als DJ, zuerst hier in Berlin in den angesagtesten Clubs und Partys und dann überall auf der Welt. Nachdem ich sie bei einem Auftritt im Konzulat gesehen hatte, wurde sie sofort zu einer festen Größe in unserem Event-Guide auf iHeartBerlin – sie war eine der wenigen Künstlerinnen, die automatisch gelistet wurden. Neben ihren DJ-Gigs trat sie auch immer wieder mit ihrer eigenen Musik auf, zum Beispiel bei den Yo! Sissy-Festivals.

Als wir das 10-jährige Jubiläum von iHeartBerlin mit einer großen Party im Kraftwerk feierten, sah ich endlich die perfekte Gelegenheit, Aérea für einen unserer Events zu buchen. Es war eine große Ehre, sie dabei zu haben – das Set, das sie spielte, war fantastisch. Nach all den Jahren konnte ich endlich ein wenig mit ihr im Backstage-Bereich des Kontrollraums abhängen. Mein damaliger Partner organisierte ein paar original venezolanische Arepas für sie, und so knabberten wir an diesen köstlichen Snacks aus ihrer Heimat, während wir über das Berliner Nachtleben und ihre Erfahrungen als Künstlerin und DJ plauderten. Wir hatten damals auch ein kleines Interview mit ihr darüber veröffentlich. Sie war so ehrlich, unglaublich warmherzig, witzig und geistreich, zeigte aber auch einen Einblick in ihre verletzliche und chaotische Seite. Sie war unglaublich authentisch.

 

Aérea Negrot bei iHeartBerlins 10jährigem Jubiläum auf dem Perspective Playground im Kraftwerk, 2017, Foto: Frank R. Schröder

 

In den folgenden Jahren schärfte Aérea ihr künstlerisches Profil weiter und wagte sich auch in die Welt des Theaters, indem sie Musik für Orte wie das Ballhaus Naunynstraße, das Hebbel am Ufer und das Maxim Gorki in Berlin sowie Kampnagel, das Lichthoftheater und den Resonanzraum in Hamburg produzierte oder dort auftrat.

Wir sind uns über die Jahre immer wieder bei ihren diversen Auftritten, aber auch privat auf Partys wie Puticlub über den Weg gelaufen. Sie hat sich immer ihre Freundlichkeit, ihren Humor und ihre positive Energie bewahrt, die sie zu einer so beliebten Person gemacht haben.

In diesem Sommer war sie eine der wenigen Künstler:innen*, die einen eigenen Abend in der Berlin Beats Veranstaltungsreihe des Hamburger Bahnhofs bekamen. Ich war begeistert, als ihr Name im Line-up auftauchte und konnte es kaum erwarten, sie zu sehen. Sie spielte ein energiegeladenes DJ-Set mit einigen kuriosen Improvisationen und beendete die Nacht mit einer Live-Performance von solcher Imposanz, dass alle eine Gänsehaut bekamen. Es war ein wunderschöner Moment, sie über der Menge zu sehen, umgeben von ihren Freund:innen* und Fans, die ihr für diesen herausragenden Auftritt ausgelassen applaudierten. Ich bin froh, dass ich diesen glorreichen Moment miterlebt habe.

 

 

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Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass dies das letzte Mal sein würde, dass ich sie sehen würde. Ich kann nicht aufhören, an die junge Frau zu denken, die ich damals zum ersten Mal im Club sah, mit diesem besonderen Funkeln in den Augen, das man nur selten findet. Ich weiß, dass sie etwas außergewöhnliches an sich hatte. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich die Karriere einer unglaublichen Künstlerin miterleben und sogar einen kleinen Teil davon werden würde.

Sie war ein fester Bestandteil vieler Gemeinschaften: der queeren Community, des Nachtlebens, der DJ-Szene, der Theaterwelt. Wenn ich jetzt all die Bilder, Videos und Geschichten sehe, die ihre Freund:innen* und Kolleg:innen* seit ihrem Tod geteilt haben, ist das herzerwärmend und herzzerreißend zugleich. Es ist unverkennbar, dass sie von so vielen Menschen, die sie zu Lebzeiten tief berührt hat, sehr vermisst werden wird. Ihr Verlust ist eine absolute Tragödie, über die wir alle noch eine ganze Weile trauern werden.

Als ich mir gestern die Aufnahmen von ihrem Auftritt im Sommer ansah, die ich damals veröffentlicht hatte, wurde ich an die letzten Worte erinnert, die ich an sie gerichtet hatte, und ich glaube, dass viele Menschen diese Botschaft heute mit mir teilen werden: 

“love you darling”

 

Fotos: Vanessa Marino

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Frank

Author

Frank ist der Gründer und Chefredakteur von iHeartBerlin. Er fotografiert, macht Videos und schreibt Texte - in der Regel über das, was in Berlin gerade abgeht. Seine Vision und Interessen haben iHeartBerlin seit der Gründung in 2007 geformt - und Frank hofft, dass er noch viele weitere Jahre das Beste von Berlin hervorheben wird.