Eine Besondere Begegnung Berlin: Verrückt sind die Normalen

Fotos: Andrea Hansen. 

An einem Laternenpfahl in Friedrichshain, nicht weit von meiner Wohnung hing er: ein kleiner, halb zerfetzter Zettel. Berlin – die Stadt, deren Bewohner über Zettel kommunizieren.

Wohnungssuchende, Liebeserklärungen, Weltschmerz, verlorene Teddybären, die Ankündigung einer Party, manchmal auch die Ankündigung einer natürlichen Hausgeburt und bei beidem die Bitte, wegen des daraus resultierenden Lärms nicht die Polizei zu rufe. Es gibt wohl nichts, dass sich die Berliner nicht mittels dieser Zettelwirtschaft sagen könnten.

An besagten Tag, auf besagten Zettel wurden helfende Hände für ein Filmprojekt gesucht.

Ich fühlte mich krank und leicht verkatert und beschloss, spontan eine Mail zu schreiben, um das unangenehme Körpergefühl durch angenehme Ablenkung zu ersetzen. Drei Tage später stand ich in einem heruntergekommenen Hinterhof eines ehemaligen DDR-Büros, nahe der Frankfurter Allee und lernte Mariana Ivana, die Regisseurin, kennen.

Mariana saß auf den porösen Steinstufen der einstmaligen Dienststelle, die inzwischen zur Hauptarbeitsstätte ihrer Filmproduktionsfirma umfunktioniert worden war, trug abgewetzte Hotpants, ein schwarzes Top und rauchte eine Zigarette.

Auf den ersten Blick war mir klar, dass sie zu diesem Schlag Menschen gehört, die, ohne es zu wollen, cool sind. Cool auf eine sympathische Art, eben weil es ihr nicht bewusst und wichtiger noch, weil es ihr vollkommen egal war, wer sie wie fand. Mariana holte mir ein Bier und begann, über den Film zu erzählen.

 

 

Der Film sollte die Nächte Berlins widerspiegeln, in denen sich die Protagonisten, während des Versuches, zu sich selbst zu finden, hoffnungslos verloren. Ein Gefühl, das ich gut kannte. Inzwischen glaube ich, dass das Verlorengehen fester Bestandteil der Suche ist. Berlin ist wie dafür geschaffen, sich selbst aus den Augen zu verlieren, inmitten illustrer Gesellschaft derer, die ebenfalls die Abwege ihres Lebens erkunden.

Ich hörte Mariana zu, wie sie mir von den Figuren erzählte, als ob es gute Freunde von ihr seien.

Sie hatte es als junge Filmemacherin geschafft, gut etablierte Schauspieler für ihren Debutfilm zu gewinnen. Und auch ich war schnell überzeugt, dass ich ihr bei diesem Projekt helfen wollte.

Inzwischen war es drückend heiß, das Bier leer und wir verabredeten uns für den Abend.

Gegen 21: 00 kam ich in der Travestraße an, um sie dort in der Bar ihres damaligen Freundes zu treffen. Drinnen war es eng und verraucht, und es herrschte eine Atmosphäre, die einem das Gefühl gab, dass es hier so etwas wie das Konzept der Zeit nicht zu geben schien.

Mariana saß mit ein paar anderen an einem Ecktisch und erzählte mir bei einem Glas Wodka, wie sie Jahre zuvor nach Berlin gekommen war. Mit kanadischen und kroatischen Wurzeln gehört sie zu den typisch wurzellosen Künstlern dieser Welt. „Große Künstler haben kein Vaterland“, sagte auch Alfred de Musset.

Ich erzählte ihr wiederrum von meinem wirren Hintergrund, meinen vielen Umzügen und wir redeten darüber, dass Berlin ein Magnet zu sein schien, für alle diejenigen, die anderswo nicht richtig hineinpassten. Eine Thematik, die in ihrem Film eine große Rolle spielt. Wir redeten über Sinn und Sinnlosigkeit, über das Glück im Unglück und von der Ungerechtigkeit des Glücks. Darüber, dass sich die Paradiesvögel dieser Welt immer wieder von den langweiligen grauen Tauben in die Ecke drängen lassen, und wie gut es sich anfühlt, in einer Stadt zu leben, in der die Paradiesvögel das Sagen haben.

 

 

Dies sollte das erste von vielen Gesprächen mit Mariana über die Bühne des Lebens und deren Darstellern werden.

In den darauffolgenden Wochen entwickelte ich PR-Konzepte, klapperte mögliche Drehorte ab, sammelte tanzwütig aussehende Menschen in Neukölln ein und schickte diese dann in die Griessmühle, weil uns noch Statisten fehlten. Die Zeit verflog und der Film nahm mehr und mehr Form an.

Schwer zu sagen, wann aus Mariana und mir Freunde wurden. Wahrscheinlich waren wir es von Anfang an. Wir halfen uns bei nächtlichen Umzügen, schlenderten sonntags über einen der vielen Flohmärkte, bemitleideten und feierten unsere Lebenssituation.

Bei unseren Brainstormingsessions waren mal Schauspieler, mal Fotografen miteingebunden und manchmal waren wir auch nur zu zweit. Alkohol floss in rauen Mengen, was zu fürchterlichen Katern und vermeintlich guten Einfällen führte.

So kam es, dass ich, dank eines unauffälligen Zettels an einer Laterne, eine der ungewöhnlichsten Frauen in meinem Umfeld kennenlernte. Mariana Ivana ist durch und durch Künstlerin. Das merkt man an ihrem höchst irritierten Blick, wenn jemand von seinem verhassten Bürojob erzählt, damit prahlt, wie viele Überstunden er für etwas geleistet hat, das ihm nichts bedeutet, schlimmer noch: selbst verachtet. An ihrer totalen Verständnislosigkeit denen gegenüber, die Anhäufung von materiellen Dingen zum Ziel des Lebens erklären, anstatt, wie sie, für die Kunst zu leben und alle verfügbare Zeit in sie zu investieren. Geld als wahres Mittel zum Zweck soll nur reichen, um es in sein Herzensprojekt investieren zu können und mit dem Rest dann die leidigen Rechnungen zu zahlen. Verrückt sind die „Normalen“.

 

 

Diese Einstellung hat sie nicht bewusst gefasst, weil sie eine bestimmte Moral oder Politik vertreten möchte; nein, sie versteht den Sinn eines oberflächlichen Vorhandenseins tatsächlich nicht und findet diese Art von Lebensinhalt wohl ziemlich befremdlich.

Denn ein Leben das Sinn hat, fragt nicht danach. Und Marianas Sinn ist es, Filme zu machen. Danach musste sie nicht suchen, das war einfach so.

Künstler sind Beobachter und Sammler. Sie beobachten und sammeln Eindrücke, Gefühle und Szenen der Welt, die sie erleben. Und dann bedienen sie sich aus diesem Sammelsurium und übersetzen diese in Musik, in Worte und in Gemälde. So kann eine Melodie eine Geschichte erzählen, ein Gemälde tiefe Gefühle auslösen und ein geschriebener Satz die Fotografie eines Gedankens sein.

Als Filmemacherin kombiniert Mariana viele dieser unterschiedlichen künstlerischen Fähigkeiten und kreiert damit ein Gesamtkunstwerk.

Hält man ihren Film „Chasing Paper Birds“ an, bei jeder Szene könnte es sich um einen wunderschönen Schnappschuss handeln, hört man mit geschlossenen Augen zu, findet man sich in der Musik und dem Stimmenrausch eines Berliner Clubs wieder.

Natürlich habe ich das Drehbuch viele Male gelesen, war sicher, dass es ein guter Film wird, aber das Ergebnis hat meine Erwartungen weit übertroffen.

Bin ich voreingenommen? Selbstverständlich! Aber ich bin auch ehrlich begeistert: das typische Gefühl, das man bekommt, wenn man meint, etwas entdeckt zu haben, bevor andere es entdecken.

Der Film „Chasing Paper Birds“ ist im Herbst 2021 in ausgewählten Kinos zu sehen.

 

 

Text: Marie F. Trankovits, Fotos: Andrea Hansen

Marie F. Trankovits ist quer durch die Welt gezogen bis sie sich vor 6 Jahren in Berlin verliebt hat. Sie arbeitet momentan an ihrer Schreibkarriere.

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