Was die Nacht mich lehrte

Eine persönliche-analytisch Reise, erzählt zu schmetternden Trommelschlägen im Viervierteltakt bei 130 bpm.

Ich drehe mich nach links und lehne meinen Körper gegen die dünne Metallwand neben mir. Der gebürstete Edelstahl schmiegt sich kühl an meinen überhitzten Schädel. Mir ist schwindelig, der Schweiß läuft mir die Stirn runter. „So, was machen wir?“, die vertraut raue Frauenstimme klingt autoritär und bestimmt. Ein Lichtblitz durchzuckt mein Blickfeld — die Reflexion der staubig-gelben Glühbirne über mir auf der steril glänzenden Oberfläche eines Mobiltelefons. Leise rieselt der Schnee, sieben schweißnasse, halbnackte Körper auf engstem Raum, frei soll der Kopf sein, oder wieder fliegen. Der Bass wabert unter unseren Füßen. Nebenan rauscht die Toilettenspülung.

Was mache ich hier eigentlich?

Rein oberflächlich habe ich doch die Kontrolle über mein Leben verloren — tiefen-analytisch betrachtet mache ich aber alles genau richtig.

„Was bedeutet Nachtleben für dich?“

„Der Nervenkitzel in Nachtclubs zu sein, hat etwas sehr Menschliches an sich, und bildet den Rahmen, indem wir in den letzten hundert Jahren und darüber hinaus gefeiert haben″, schreibt Wissenschaftler, Journalist und Techno-DJ Dr. Madison Moore im Kapitel über Clubkultur seines Buches ‘Fabulous – Rise of the Beautiful Eccentric’.

Ein Jahr bevor Madison diese Worte zu Papier bringt, sitze ich ihm an einem milden Juli-Abend in einer Bar in Kreuzberg gegenüber und schlürfe beschwipst an meinem dritten Margarita in Folge. In diesem Moment bin ich einfach nur verwundert, dass jemand wie er — 33, us-amerikanischer Professor aus London, im derzeitigen Techno-Sommer-Exil, und ich, Student im Sturm-und-Drang meiner beginnenden Zwanziger auf der Suche nach… (?) Hm — mit mir eine erwachsene Unterhaltung führen möchte und erkannte nicht welchen Einfluss dieses Gespräch rückblickend nicht nur auf mich, sondern auf uns beide haben würde. „Was bedeutet Nachtleben für dich?”, nach einstündigem ‘Kiki’ über ‘Dicks, Dreams and Drama’ feuert er die Frage einer Pistole gleich in stechend-analytischem Ton auf mich ein, während sein eben noch glasiger Blick wissenschaftlicher Konzentration weicht.

Eine Frage, die mich seitdem nicht losgelassen hat — Woche für Woche, im gleißenden Licht der Scheinwerfer, zwischen knatternden Basslines und schallernden High-Hats.

 

 

Nachtleben-Geschichte ist Queere-Geschichte

Nachtleben-Geschichte ist Queere-Geschichte, betont Luis-Manuel Garcia in seinem Essay über queere Clubkultur, das 2014 auf Resident Advisor veröffentlicht wird — ein Text, der auch mir später helfen würde, meine unerklärbare Faszination für die Nacht zu ergründen.

„Schon im New York der 1970er Jahre kamen queere Menschen und deren Verbündete zusammen, um gemeinsam kleine Räume im rauen, urbanen Setting der Großstadt zu schaffen“, schreibt der Professor der Universität Birmingham und Organisator des queeren Berliner Party-Kollektivs ‘Room4Resistance’. „Räume, in denen sie sicher sein konnten, sie selbst sein konnten, für eine Weile jemand anders sein konnten und mit anderen auf eine Art und Weise zusammen sein, die in der ‘normalen’ Alltagswelt nicht erlaubt war. Musik war ein wesentlicher Bestandteil dieser Zusammentreffen.“

 

Up in the Club

Der Kopf ist wieder frei — fliegen tu ich nicht. Unsere Gruppe verlässt das bizarre, einem Bazaar gleiche Treiben der Clubtoilette in Richtung Tanzfläche. Wir ziehen vorbei an muskelbepackten Ungetümen und zierlichen Gestalten, an schwitzenden Körpern, um die sich Lederriemen und Metallketten ranken, und exzentrischen Kreaturen, deren schillernde Outfits aus Samt und Seide uns geradezu blenden, während lüsterne Blicke uns aus tiefschwarzen Pupillen von den Seiten her beäugen. Der Geruch der Nacht kriecht mir in die Nase — warmer Schweiß vermischt sich mit frischem Parfum, kaltem Zigarettendunst und diesem Hauch von Sex.

 

Und im nächsten Augenblick waren wir ihnen nach in den Kaninchenbau hineingesprungen — ohne zu bedenken, wie in aller Welt wir wieder herauskommen könnten …

 

„Nachtleben ermöglicht es uns, Grenzen zu überschreiten; wir setzen uns gegen kulturelle Beschränkungen und Normen zur Wehr und erschaffen Erlebnisse″, führt Madison im Kapitel ‘Up in the Clubs’ fort. „Durch Nachtleben sind wir in der Lage unser häuslich-privates Selbst zu verlassen und uns so auf die Suche zu machen nach einem ‘anderen Leben’.″

Einer meiner besten Freunde – eine exzentrische Diva in Plattform-High-Heels und Pailletten-Schlaghosen, mit charakteristischer Lockenmähne – wurde in seinem ersten Jahr in Berlin von den Tanzflächen der Stadt angezogen, wie eine Motte vom Licht. Aufgewachsen im Zirkel einer streng konservativen Familie war sein Umzug nach Berlin ein Schlag der Befreiung und das Nachtleben der Stadt das Ausleben eines Selbst, das er lange Zeit hinter Gittern halten musste.

 

 

 

„Dort kann ich Energie freilassen und mich ausdrücken″

In einer Interviewreihe für IHeartBerlin befragte ich vor einem Jahr die Clubkids der Stadt zu ihrer Beziehung zum Nachtleben. Die Antworten waren episodenhafte Einblicke in die Psychologie einer Tanzfläche — „Wenn du gesehen werden willst, wirst du gesehen werden! Aber wenn du Teil der Menge sein willst, dann kannst du einfach in der Masse verschwinden″, schreibt Alyha. „Dort kann ich Energie freilassen″, antwortet mir Souad, ″mich und meine Gefühle und Emotionen ausdrücken.“„Es ist wie Zauberei — eine rohe, primitive und instinktive Energie, durch die ich mit der Intensität der Musik und den Menschen um mich herum verbinden kann“, beschreibt Nayme träumerisch.

Teil der Community des Nachtlebens zu sein, hinterlässt Spuren — zuweilen sind diese Spuren körperlich, doch graben sich die Erfahrungen der Nacht geradezu in den Kopf ein, um dort normative Dämme zu brechen, und nie geahnte Freiräume zu schaffen. Die Nacht lässt den schüchternen, aber ausgefallenen kleinen Jungen mit Wuschellocken zur Disco-Diva werden, und die graue Maus im schlecht sitzenden Baumwoll-Shirt zur Rave-Prinzessin in hautenger Lingerie.

 

Wenn du dich in der Energie der Masse treiben lässt

Zurück zu diesem Promille-lastigen Berliner Hochsommer-Abend, der so vieles verändern würde: Der Abend, an dem eine prägende Freundschaft begann, bevor Madison und ich unsere eigene Partyreihe ‘OPULENCE’ starten würden, und bevor ich mich selber hinterm DJ-Pult versuchen würde, um zu verstehen, was es heißt, eine Nacht zu orchestrieren …

Ich nehme einen tiefen Schluck meines Margaritas, das Salz am Glasrand brennt mir auf der Zunge und die Kreuzberger Sommerluft weht mir ins Gesicht — warmer Asphalt, verbrannte Reifen, und das Versprechen auf eine langen, umtriebige Freitagnacht. Ich lächel angeheitert und schaue hinaus auf die belebte Oranienstraße. Madison wartet noch auf eine Antwort.

„In der MItte der Tanzfläche, wenn ich mich zwischen Bass und Lichtern in der Energie der Masse treiben lasse“, ich stelle mein Glas ab und schaue ihm in die Augen, „dann bin ich nicht länger unsicher, ängstlich, oder ziellos — auf der Tanzfläche bin ich!“

Wir drücken uns durch das schiere Meer aus Körpern, ein bassloser Synthesizer schwirrt durch den Raum und verbreitet eine erwartungsvoll-melancholische Melodie. In einem lang anhaltendem Ton verabschiedet sich der Synthesizer, als wir das Zentrum der Tanzfläche erreichen — ein dramatischer Moment der Stille — das Licht flackert gespannt. Als der Bass mit voller Kraft aus den Boxen feuert, tost auch der Synthesizer erneut auf, und die Masse schreit ekstatisch.

 

Ich schließe beseelt die Augen.

 

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Andy

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